„Putin war konsequent“: Ex-OSZE-Botschafter zu den Wurzeln des Ukraine-Krieges
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hat ihren Auftritt vor der 10. Überprüfungskonferenz des Nuklearen
Nichtverbreitungsvertrages Anfang August
mit einem
zentralen Ziel der deutschen Außenpolitik
begründet: der
Verteidigung der regelbasierten
internationalen
Ordnung. Die Verrechtlichung der
internationalen
Beziehungen und die Schaffung eines
institutionellen
Ordnungsrahmens für das friedliche
Zusammenleben
der Völker waren auch nach den Schrecken
des letzten
Weltkriegs wichtige Anliegen der
Siegermächte.
Die
völkerrechtliche Ordnung wurde jedoch
durch eine auf
Durchsetzung von Ideologien und
nationalen
Interessen insbesondere der Großmächte
ausgerichtete
Weltordnung überlagert.
Die ersten
Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg
waren geprägt
durch die bipolare Weltordnung zwischen
Ost und West,
die nahezu alle Aspekte der
internationalen Beziehungen bestimmte.
Die
Welt respektierte im Interesse der
Vermeidung eines neuen, möglicherweise
auch
nuklear geführten großen Kriegs die roten
Linien
der jeweils anderen Seite und suchte vor
allem seit Ende der 1960er-Jahre durch Dialog, Zusammenarbeit und auf die Gewährleistung eines nachhaltigen
militärischen Gleichgewichts ausgerichteten Rüstungskontrollvereinbarungen Sicherheit und Stabilität trotz der
zunächst unüberwindbar erscheinenden Konfrontation zwischen den „Systemen“ herzustellen.
Forcierte Rüstungsanstrengungen der Nato, zunehmende wirtschaftliche Schwäche und Überdehnung aufseiten der
Sowjetunion und des Warschauer Pakts sowie diplomatisches Einlenken aufseiten der sowjetischen Führung unter Michail
Gorbatschow führten schließlich zu einer Überwindung der Blockkonfrontation und dem Ende des Kalten Kriegs; dabei
setzten sich schon zuvor im KSZE-Prozess vereinbarte, ursprünglich vom Warschauer Pakt als rein rhetorische Zugeständnisse
abgebuchte westliche Werte (vgl. KSZE-Schlussakte von 1975) durch.
Die neue, vor allem durch chaotische Verhältnisse und Zerfall gekennzeichnete Situation in den Staaten der ehemaligen
Sowjetunion und des Warschauer Pakts erforderten mit Fingerspitzengefühl durchzuführende Stabilisierungsmaßnahmen.
Dies bedeutete zunächst eine Absicherung der verbleibenden, aufgrund der politischen Auflösungserscheinungen in Ost-
und Mittelosteuropa gegebenen Risiken. Dem wurde durch die Aushandlung bzw. Inkraftsetzung von stabilisierenden
Rüstungskontrollvereinbarungen wie dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa, dem Vertrag über den
Offenen Himmel, den Start-I- und -II-Verträgen zwischen den USA und der Sowjetunion bzw. Russland zur Reduzierung
strategischer Trägermittel für Nuklearwaffen, den Nuklearinitiativen der Präsidenten der USA, der Sowjetunion und
Russlands zur Reduzierung taktischer Nuklearwaffen wie auch dem Ausbau der vertrauens- und sicherheitsbildenden
Maßnahmen (Wiener Dokumente) schon zu Beginn der 90er-Jahre Rechnung getragen. Letztlich bildeten diese Vereinbarungen
– gemeinsam etwa mit dem schon 1987 abgeschlossenen Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF) – die
Voraussetzung für die Schaffung von gegenseitigem Vertrauen und den reibungslosen Übergang in eine neue Phase, in der
auch Deutschland die Möglichkeit sah, seine Streitkräfte dramatisch zu reduzieren, ohne dass dies Einfluss auf seine
Sicherheit und Stabilität hätte.
Daneben markierte die schon 1990 im KSZE-Rahmen vereinbarte „Charta von Paris für ein neues Europa“ das gemeinsame
Bekenntnis zur Überwindung der Spaltung Europas und zu einer neuen Friedensordnung, die auf westlichen Werten wie
Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit gründet. Das damit angelegte System kollektiver Sicherheit, in dem
alle Staaten der KSZE (später OSZE) gemeinsam, gleichberechtigt und inklusiv für Frieden und Sicherheit untereinander
sorgen sollten, bildet bis heute den Bezugspunkt für Verweise auf die Sicherheitsordnung, die durch den Antrag der
Ukraine zum beitritt zerstört wurde.
Allerdings hatte die KSZE/OSZE als kollektives Sicherheitssystem schon in den 90er-Jahren keinen hohen politischen
Stellenwert; sie wurde dann nach der Jahrtausendwende zunehmend marginalisiert. Die Nato als konfrontativ nach außen
gerichtetes Verteidigungsbündnis blieb die dominierende Sicherheitsorganisation für Europa. Unmittelbar nach Ende des Kalten
Kriegs schon suchten ehemalige Staaten des Warschauer Paktes wie einige Nachfolgestaaten der Sowjetunion einen
Beitritt zu Nato. Aufgrund historischer Erfahrungen saß die Abneigung gegenüber Russland sehr tief.
Die Nato entsprach diesem Interesse durch einen Erweiterungsprozess, der zunächst mit großer Rücksichtnahme auf die
Befindlichkeiten Russlands durchgeführt wurde. Diese fand ihren Niederschlag im 2+4-Vertrag und in der Nato-Russland-
Grundakte. Dabei ging es neben einer ausdrücklichen Sicherheitspartnerschaft mit Russland auch um konkrete einseitige
militärische Zurückhaltungsverpflichtungen (u. a. Verzicht der Nato auf Stationierungsstreitkräfte und
Atomwaffen in den neuen Bundesländern; Verzicht auf Stationierung von substanziellen Kampftruppen wie
Atomwaffen in den neuen Mitgliedsländern der Nato).
Selbst wenn schon der erste Präsident Russlands, Boris Jelzin, Vorbehalte gegen die Nato-Erweiterung hatte, so
verschärfte sich der Ost-West-Gegensatz mit den Amtsantritten der Präsidenten Wladimir Putin und George W.
Bush 2000/2001. Bush sah einen unipolaren Moment in den internationalen Beziehungen gekommen; die USA
wähnte er in der Lage und berufen, die internationalen Beziehungen zu dominieren. Damit einher ging ein hochmütiges
Absehen von während des Kalten Kriegs gerade auch von westlicher Seite viel beschworenen Rücksichtnahmen. So setzte Bush
statt auf militärisches Gleichgewicht auf Überlegenheit der amerikanischen Streitkräfte zur Wahrung von
Sicherheit. Auch begann er damit, als Einschränkung amerikanischer Handlungsfreiheit empfundene Verpflichtungen gerade
auch im Bereich der Rüstungskontrolle systematisch und ohne viel Federlesen abzustreifen.
So kündigte er 2002 den mehr als 30 Jahre zuvor mit der Sowjetunion abgeschlossenen Vertrag über die Begrenzung von
antiballistischen Raketenabwehrsysteme (ABM-Vertrag), der die Grundlage für die strategische Stabilität zwischen beiden
Großmächten bildete. Auch wurden jetzt die nächsten Erweiterungen der Nato ohne für Russland
abfedernde, die Nato einseitig bindende militärische Zurückhaltungsverpflichtungen umgesetzt. Die
USA drängten auch gegen den entschiedenen russischen Widerstand auf rasche Erweiterung um die
Ukraine und Georgien. Dagegen wandten sich Deutschland und Frankreich, die beim Nato-Gipfel 2008 eine
Kompromissformulierung erreichten, die zwar die generelle Aussicht auf Nato-Mitgliedschaft beider Länder enthielt,
jedoch den Beginn eines Beitrittsprozesses zunächst blockierte.
Putin fühlte sich durch die neue amerikanische Politik herausgefordert. Ihm ging es letztlich um die Anerkennung und
Wahrung des Großmachtstatus Russlands auf Augenhöhe mit den USA, was Letztere jedoch faktisch zurückwiesen; sie sahen
in Russland lediglich eine „Regionalmacht“, wie es selbst noch Präsident Obama formulierte. Zwar bezog Putin eine
klare Gegenposition zu den USA und beklagte sich u. a. bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 bitter über die
Missachtung russischer Interessen. Nach den chaotischen Jelzin-Jahren sah er Russland jedoch in kurzfristiger
Perspektive weder wirtschaftlich noch militärisch kaum in der Lage, seinen Interessen Geltung zu verschaffen.
Allerdings hat er durch militärische Interventionen 2008 in Georgien und 2014 in der Ukraine rote Linien für die Nato-
Erweiterung markiert. Dabei ist unerheblich, ob er den Nichtbeitritt beider Staaten zur Nato aus Gründen der
Sicherheit Russlands (Wahrung eines „Glacis“) oder eines Revisionismus forderte, der sich einer völlig verqueren, die
Nichtstaatlichkeit der Ukraine behauptenden Argumentation bediente.
Auffällig ist, dass Putin konsequent und mit langem Atem seine Ziele verfolgte. Als Beispiel sei nur auf die
russischen Bemühungen hingewiesen, nach der amerikanischen Kündigung des ABM-Vertrags 2002 einen befürchteten Verlust
der russischen Zweitschlagfähigkeit und damit den Abstieg als Großmacht zu verhindern. War zu Beginn der 2000er-Jahre
Russland noch zu schwach, um der Raketenwehr etwas Wirksames entgegenzusetzen, so trachtete Putin schon früh durch
neue Trägermittel die amerikanische Raketenabwehr überwinden zu können. Aber es brauchte Zeit; so stellte Putin erst
2018 neuartige Systeme vor, die dieses Ziel erfüllen würden, darunter eine Hyperschallrakete, eine neue
endphasengesteuerte Interkontinentalrakete und einen nuklear bestückten Unterwassertorpedo. Auch mit dem Angriff auf
die Ukraine hat Putin vermutlich lange auf ein Einlenken des Westens in der Erweiterungsfrage und zusätzliche
Versicherungen und rüstungskontrollpolitische Vereinbarungen gesetzt. Gleichzeitig war er doch auch bereit, nach einem
Wiedererstarken der russischen Streitkräfte letztendlich militärische Mittel zur Erreichung seiner Ziele einzusetzen.
Selbst wenn er sich – was die Fähigkeiten der russischen Streitkräfte, den Verteidigungswillen der Ukraine und die
entschlossene Reaktion des Westens angeht – gründlich getäuscht und verkalkuliert hat, so hält er doch bis heute
offenbar unbeirrt an seinen Zielen fest, die er mit neuem Taktieren und unter Inkaufnahme beträchtlicher Opfer doch
noch zu erreichen sucht. Ob dies gelingt, ist fraglich, jedoch nicht völlig auszuschließen.
Der Ukraine-Krieg hat einmal mehr verdeutlicht, dass die Weltordnung einem dynamischen Veränderungsprozess ausgesetzt
ist. Von einer bipolaren Weltordnung kann schon lange keine Rede mehr sein; auch der unipolare Moment, von dem die
USA in eklatanter Überschätzung der eigenen Möglichkeiten in den 2000er-Jahren und
zumindest teilweise während der erratischen Außenpolitik unter Präsident Trump
ausgegangen ist, ist lange Geschichte. Die USA sind schon seit Jahren auf Asien und den schnell aufsteigenden
Rivalen China fokussiert. Und es sollte auch nicht überraschen, dass angesichts der aggressiven Außenpolitik und der
raschen Aufrüstung Chinas das neue, am 29.6.22 verabschiedete strategische Konzept der Nato erstmalig deutliche
Passagen zur Politik Chinas enthält, die gegen die Interessen des Bündnisses gerichtet ist. Wir sind heute statt der
alten bilateralen Blockkonfrontation, auf die sich die Seiten eingestellt hatten, mit einer sich verschärfenden
multipolaren Rivalität zwischen den Großmächten konfrontiert.
Oder ist es letztlich doch nur eine neue Bipolarität zwischen Autokratien und Demokratien? In jedem Fall versuchen
Russland und China durch eine aktive Außenpolitik sowohl die Beziehungen zu autokratisch verfassten Regimen zu
vertiefen und auch die Staaten der Dritten Welt auf ihre Seite zu ziehen oder zu neutralisieren. So hat beispielsweise
China jetzt eine darauf abzielende „Global Security Initiative“ beschlossen und sucht u. a. durch Pflege und
möglicherweise Erweiterung von Staatenvereinigungen wie BRICS (China, Indien, Russland, Brasilien, Südafrika) seinen
globalen Einfluss zu stärken und eine Art Gegengewicht zu westlichen Formaten zu schaffen.
Es darf jedoch nicht von einem fest gefügten „Block“ von autoritären Staaten ausgegangen werden. Dies gilt selbst für
Russland und China, die sich bei ihrem Gipfel am 4. Februar 2022 auf eine „Partnerschaft ohne Grenzen“ verpflichtet
haben. China verfolgt klar eigennützige Interessen, was auch bei der Seidenstraßeninitiative gegenüber
mittelasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zum Ausdruck kommt. Zudem ist davon auszugehen, dass der russische
Angriffskrieg gegen die Ukraine China nicht gelegen kam, könnte dadurch doch der ökonomische Aufstieg Chinas und das
Bemühen, schnellstmöglich die USA als stärkste Volkswirtschaft zu überholen, konterkariert oder zumindest behindert
werden.
Auch dürfte China eine Ablehnung der sich als Folge des Kriegs abzeichnenden „Deglobalisierung“ in wirtschaftlicher
Hinsicht unterstellt werden können. Fraglich bleibt allerdings, ob sich angesichts der inzwischen eingetretenen
Entwicklung und insbesondere auch der hohen Spannungen zur Taiwanfrage, die für Präsident Xi Jinping jenseits
wirtschaftlicher Erwägungen von überragender politischer Bedeutung ist, ein anderes chinesisches Kalkül einstellt.
Russland bleibt in der jetzigen Situation auf das Wohlwollen und die Unterstützung Chinas angewiesen; allerdings muss
Präsident Putin sich mit einer Position Russlands als Juniorpartner zufriedengeben, was ihm nicht gefallen dürfte.
Aber auch in den USA gibt es Kräfte, die auf eine Aufteilung der Welt in Demokratien und Autokratien setzen. Dabei
wird übersehen, dass keineswegs davon auszugehen ist, dass die Zeit für die Demokratie arbeitet. Nach einer
kontinuierlichen Zunahme der Zahl demokratischer Staaten in den letzten Jahrzehnten ist deren Zahl in den letzten
Jahren rückläufig. Nach dem Demokratie-Index der Zeitschrift Economist wurden 2021 nur 21 Staaten als „vollständige
Demokratien“ eingestuft. Nicht nur gibt es besorgniserregende autokratische und autokratisch-populistische Tendenzen
in einigen Staaten auch der EU. Auch – dies ist für die Entwicklung der internationalen Beziehungen besonders relevant
– zählen die USA mit der Perspektive einer erneuten Machtübernahme eines republikanischen Präsidenten ebenfalls zu den
Staaten, auf die sich besondere Sorgen richten.
Es gibt weitere Gründe, westlicherseits nicht auf eine Konfrontation zwischen Autokratien und Demokratien als
konstitutives Element einer sich entwickelnden künftigen Weltordnung zu setzen: Autokratisch regierte Staaten sind –
das zeigt nicht nur das Beispiel China – wirtschaftlich nicht zwangsläufig weniger erfolgreich; sie sind zudem in die
Weltwirtschaft integriert, was auch deren wirtschaftlichen Fortkommen und Erfolg zugutegekommen ist. Und sie sind sehr
wichtige Lieferanten nicht nur von Industriegütern, sondern auch strategisch wichtigen Rohstoffen. Auch gibt es unter
den Demokratien eine Reihe von Staaten, die nicht für einen kategorischen Abgrenzungskurs gegenüber autokratischen
Staaten zu gewinnen sind. Dies gilt u. a. für Staaten wie Indien, die sich durch eine fortgesetzte Zusammenarbeit
beispielsweise mit Russland wirtschaftliche Vorteile erhoffen. Daneben sollte auch die abwartend-reservierte Haltung
von wichtigen Staaten der Dritten Welt (Beispiel Südafrika) nicht unterschätzt werden, die sich in der Vergangenheit
von den Industriestaaten nicht hinreichend wahrgenommen und wertgeschätzt gesehen haben, jetzt jedoch mit der
Forderung konfrontiert werden, sich auf die Seite der entwickelten westlichen Welt zu schlagen, gegen Russland und
China Stellung zu beziehen und diese Staaten zu sanktionieren, was mit erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen für sie
selbst verbunden wäre.
Warum der vorstehende Erklärungsaufwand und umfangreiche historische Diskurs? Wir wissen doch, dass wir uns auf eine
neue Weltordnung oder -unordnung, auf neue große Gefahren für den Frieden, Sicherheit und unsere Werte einstellen
müssen. Aber die von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende war kein völlig unvorhergesehener Einschnitt.
Der Beginn des Kriegs in der Ukraine mag für viele eine Art Wendepunkt gewesen sein. Er ist aber auch Teil eines
Prozesses, der eine Vorgeschichte hat, jetzt allerdings mit beschleunigter Dynamik abläuft.
Jetzt gilt es, unsere Freiheit und Werte zu verteidigen und hierfür durch Gestaltung einer wehrhaften Demokratie und
eine aktive Politik im Bündnis und der EU wichtige Voraussetzungen zu schaffen. Dabei dürfen die Realitäten und sich
daraus ergebende politischen Zwänge nicht ignoriert werden. Wir stehen im Verhältnis nicht nur zu Russland in einer
neuen, verschärften Phase der Konfrontation, vor einem Kalten Krieg 2.0. Dieser ist zwar in vieler Hinsicht mit dem
alten Kalten Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg nicht vergleichbar. Dennoch sollten wir bei der Gestaltung der jetzt
kritischen Übergangsphase zu einer hoffentlich wieder stabileren, berechenbareren Weltordnung aus der jüngsten
Geschichte und den gemachten Erfahrungen Lehren ziehen. Es ist jetzt nicht die Zeit von Überheblichkeit, die in
mancher Hinsicht den Westen über lange Jahre nach Ende der Teilung Europas und insbesondere nach der Jahrtausendwende
geprägt hat.
Die Komplexität der augenblicklichen internationalen Lage bedingt eine vielschichtige außenpolitische
Gestaltungsagenda. Dabei muss die Verhinderung eines großen Krieges, der mit möglicherweise existenzielle Gefahren für
die gesamte Menschheit verbunden sein könnte, im Zentrum stehen. Eskalationsrisiken müssen angegangen werden und
dürfen – wie leider aktuell in Verfolg eines von vielen vertretenen gesinnungsethischen Politikansatzes zum
Ukrainekrieg – nicht abgetan oder ignoriert werden. Folgende Aufgaben könnten im Vordergrund stehen:
• Eine gesicherte Verteidigungsfähigkeit ist Grundlage für die zu verfolgende Politik. Dies macht eine nachhaltige
Beseitigung der Ausrüstungs- und Fähigkeitsdefizite der Bundeswehr besonders dringlich. Die hierzu bisher ergriffenen
Maßnahmen – insbesondere das Sondervermögen über 100 Milliarden Euro – dürften hierfür nicht ausreichen. Auch dürfen
jetzt Fragen wie nach der Wiederbelebung einer Dienstpflicht nicht tabuisiert werden.
• Im Rahmen der Nato muss eine effektive multinationale Vorneverteidigung an der Grenze zu Russland (ggf. nach dem
Vorbild des vergangenen Kalten Kriegs) organisiert werden, um von einem Angriff oder einem „Überschwappen“ auf das
Bündnisgebiet wirksam und nachhaltig abschrecken zu können.
• Angesichts künftiger Unwägbarkeiten in den USA und daraus folgender Auswirkungen auf die transatlantischen
Beziehungen, aber auch mit Blick auf eine Verschärfung der künftig die Weltordnung charakterisierenden multipolaren
Rivalität insbesondere zwischen den Großmächten sollte die EU ihre Selbstbehauptungskräfte stärken und auch
militärisch eine strategische Autonomie (auch unter Einschluss eines nuklearen Abschreckungsdispositivs) anstreben.
• Der Wettbewerb und die Rivalität unter den Großmächten bedarf eines geschickten Managements mit Augenmaß. Eine
einseitige, die Rivalität verstärkende Konfrontationsstellung zwischen Autokratien und Demokratien ist ebenso wie die
Ausgrenzung einzelner Staaten zu vermeiden. Dabei sollten die gemeinsamen Interessen und Herausforderungen wie die
Bewältigung des Klimawandels eine wichtige Richtschnur bilden.
• Trotz aktuell wenig günstiger Aussichten sollte alles daran gesetzt werden, so schnell wie möglich den Krieg in
der Ukraine durch einen Interessenausgleich zu beenden, ohne dass dadurch falsche Präzedenzen geschaffen werden.
Letzteres bedeutet, dass der russische Aggressor nicht für den von ihm angezettelten Angriffskrieg belohnt werden
darf. Angesichts der großen Eskalationsrisiken und zu erwartender hoher Opferzahlen bei einer langandauernden
kriegerischen Auseinandersetzung kommt insbesondere den USA eine besondere Bedeutung zu, entschieden auf eine
diplomatische Lösung zu drängen, die dem bisherigen Setzen beider Seiten auf einen Siegfrieden durch für alle bittere
Kompromisse ein Ende setzt.
• Angesichts der Aussicht auf einen (nach erfolgter „Abräumung“ des bisherigen rüstungskontrollpolitischen
Besitzstandes) weitgehend unregulierten neuen Kalten Krieg sollte – trotz der kurzfristig nicht zu überwindenden
Gegensätze – der Dialog zwischen den Großmächten wieder aufgenommen und die Rüstungskontrolle wiederbelebt werden.
Dies ist nicht nur zur Stabilisierung der militärischen Konfrontation und der Vermeidung von Fehlkalkulationen
erforderlich. Durch rüstungskontrollpolitische Maßnahmen ließen sich auch ein neues Wettrüsten und überschießende
Verteidigungsausgaben verhindern und so Mittel für die gemeinsam zu bewältigenden Menschheitsherausforderungen
(Stichworte: Klimawandel, Gesundheitsvorsorge und Bewahrung der gemeinsamen Lebensgrundlagen) freisetzen.
• Die Bemühungen zum Ausbau regelbasierter Ordnungsrahmen sollten auf globaler wie regionaler Ebene mit Nachdruck
(und ohne Illusionen) fortgesetzt werden. Dabei ist auch die Zusammenarbeit unter den durch das UN-System
privilegierten P5-Staaten (USA, China, Russland, Frankreich, Großbritannien) im Interesse einer Einhegung ihrer
Rivalität zu fördern. Diese fünf nach dem Atomwaffensperrvertrag anerkannten Nuklearwaffenstaaten haben gemeinsame
Interessen bei der Nichtverbreitung. Kurzfristig wird es beispielsweise darum gehen, das Regime des
Atomwaffensperrvertrags trotz fehlender Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung zu bewahren und das Atomabkommen mit
dem Iran, von dem sich 2018 die USA zurückgezogen haben, wiederzubeleben.
• Im Interesse von Frieden und Stabilität bedürfen von den Großmächten erklärte sogenannte rote Linien besondere
Aufmerksamkeit. Wie im vergangenen Kalten Krieg sollte auf eine kurzfristige Veränderung zentraler roten Linien
realpolitisch angesichts der Gefahr aus dem Ruder laufender Eskalationsrisiken verzichtet werden. Die Nato sollte
deshalb beispielsweise auf eine Forcierung des Erweiterungsprozesses und die Aufnahme der Ukraine und von Kaukasus-
Staaten verzichten; auch die EU sollte auf Symbolpolitik verzichten und davon absehen, die Perspektive einer Aufnahme
der Ukraine prominent in den Mittelpunkt zu stellen.
• Die Globalisierung sollte nicht grundlegend infrage gestellt werden; vermutlich ist dies angesichts des
erreichten Stands wirtschaftlicher Verflechtung ohnehin kaum möglich. Für von einem funktionierenden Welthandel
abhängige Staaten wie Deutschland hätte dies zudem nicht absehbare Wohlstandsverluste zur Folge; zudem bleibt entgegen
gegenteiligen Unkenrufen richtig, dass Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit stabilitäts- und
verständigungsfördernde Wirkung entfalten. Unbeschadet dessen gilt es, einseitige Abhängigkeiten im Interesse der
Vermeidung von Erpressbarkeit abzubauen (allerdings fraglich, ob dies in allen Fällen gelingen wird).
• Angesichts der neuen Großmächterivalität wird auch die Konkurrenz um die Zustimmung und Unterstützung von
wichtigen Staaten in der Dritten Welt wachsen. Der Westen ist gefordert, dem durch eine kluge Einbindung dieser
Staaten wie auch durch wirtschaftliche Anreize und Investitionen gerecht zu werden.
Die vorstehende Liste mag wie eine Aufzählung wohlfeiler, frommer Wünschen klingen. Und sie ist es in gewisser Weise
auch. Die genannten Punkte bedürfen der Umsetzung durch konkrete Politik. Ihre Umsetzung mag kurzfristig wenig
realistisch erscheinen; dennoch bietet die Auflistung ein Raster für die zu bewältigenden Herausforderungen.
Deutschland sollte sich die Gefahren bewusst machen, die im aktuellen Umwälzungsprozess der Weltordnung liegen.
Sicherlich sind die ihm innewohnenden Risiken nicht völlig beherrschbar. Dennoch erfordern sie entschiedenes Handeln.
Dabei ist vielfach das Beschreiten neuer Wege erforderlich; aber auch die Lehren des vergangenen Kalten Kriegs sollten
nicht außer Acht gelassen werden. Markige Worte allein reichen ebenso wenig wie die Betonung der Notwenigkeit
gemeinsamen Handelns. Die Gestaltung einer stabilen Weltordnung erfordert Führung in die richtige Richtung. Führung
erfordert einen wertegeleiteten Kompass, aber auch einen ausgeprägten und klaren Sinn für Realpolitik.
Rüdiger Lüdeking ist ehemaliger Ständiger Vertreter Deutschlands bei der OSZE (2012–2015) und ehemaliger deutscher
Botschafter in Belgien (2015–2018).